Klassenkampf, Kaffeekonsum und Hitler – das war unser Jahr 2016!
Liebe
Freunde und Verwandte,
Leanders Schule macht uns immer alles nach. Nach unserem Sommerurlaub
in den Schweizer Alpen 2015 gab seine Lehrerin zum Beginn des neuen
Schuljahres bekannt, die nächste Klassenfahrt gehe in die Dolomiten –
die Umwelt-Schüler sollten „die Alpen als Vegetationsraum“ näher
kennenlernen. Wir nahmen das hin.
Dieses Jahr wurde Leander dann
konfirmiert, unser Geschenk war eine Reise nach London – wie bei Tabea
einst auch: Vier Tage für die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, ein
bisschen Englisch sprechen, Fish & Chips essen, die Harry Potter
Filmstudios besuchen. Zum ersten Elternabend im neuen Schuljahr
verkündete die Lehrerin dann das Ziel der nächsten Klassenfahrt: Es war
London.
Schon die Dolomiten wurden ein Desaster:
je 16 Stunden Busfahrt, vier Tage Dauerregen, statt eines
Schlechtwetterprogramms gab es Handyspiele (obwohl Handys verboten
waren) und Youtube über das Hotel-Wlan. Auf dem Elternabend versuchten
wir, eine Wiederholung dessen an der Themse zu verhindern. Doch
sämtliche unserer Vorschläge für Ziele innerhalb Deutschlands fielen
durch. Die Mehrheit applaudierte statt dessen der Lehrerin, die doch
„für unsere Kinder“ derart aufopferungsvoll „so tolle Reisen“
organisiere. Wir fühlten uns wie zwei Moslems auf einer Pegida-Demo.
Möglicherweise
steht der Schulleiter ebenso wie wir auf ostdeutsche Seen oder Wälder.
Wie sich der Clash der Milieus am Ende zu unseren Gunsten wendete, lest
ihr weiter unten.
Jedenfalls
entsteht dieser Jahresbrief gerade im Thüringer Wald, der nicht nur für
Klassenreisen ein toller Ort wäre, sondern es auch für unseren Jahreswechsel ist.
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Es
gibt in unserem Dorf am Rennsteig kaum Handynetz und man kann dort –
anders als in Berlin – sogar das Echo der eigenen Silvesterknaller
hören, über den Himmel der stockfinsteren Silvesternacht huschten
Sternschnuppen. In Berlin dagegen drängen sich die Menschen und Häuser,
hier übertönen die Flugzeuge das Quietschen der Straßenbahnen, hier
ruft täglich die Pflicht.
Leander spielt Primavera an der Orgel in Altlandsberg>>>
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Vor
allem für Leander. Noch immer übt der 14-Jährige fast täglich Klavier.
Ende Juni sollte an der Musikschule seine Abschlussprüfung stattfinden.
Das Programm stand bereits, bald auch der Termin. Parallel nahte
Leanders Konfirmation, fast ein Jahr hatte er donnerstagabends mit den
23 anderen Jahrgangsgenossen die Konfirmandenstunde besucht.
Wenige Tage vor dem großen Fest am 3. Juli sollte in der Kirche Weißensee die Generalprobe für den Festgottesdienst stattfinden.
Doch den Termin legte die Kirchgemeinde genau auf die
Musikschulprüfung. Leander war bei der Stellprobe unabkömmlich, wir
sagten die Klavierprüfung also ab und verlängerten seine Musikschulzeit
um ein Jahr, schweren Herzens.
Die Konfirmation war gelungen. Den
Vorabend feierten wir in großer Runde auf unserem Hof mit Verwandten
und Freunden, der Grill rauchte, in Reden und in Bildern zog Leanders
14-jähriges Leben an uns vorbei. Am späteren Abend musste Tilman den
Kühlschrank bewachen, um den Zugriff von Leanders Altersgenossen auf das
Grapefruit-Schöfferhofer zu stoppen. Im Trubel nach dem Gottesdienst am
Sonntag vergaßen wir, neben dem üblichen Gruppenbild ein separates
Vierer-Familienfoto zu machen. Doch der Nachmittag in Altlandsberg bei
Berlin ist allen, die dabei waren, in schöner Erinnerung: Das Festessen
im „Armenhaus“, das Privatkonzert an der Kirchenorgel von Großvater
Gottfried, der Blick in die Turmuhr, ins Nest der lokalen
Storchenfamilie, über die Reste der Stadtmauer...
Trotzdem ist man als 14-Jähriger dann nicht auf einen Schlag erwachsen.
Auf Leanders Weihnachtswunschzettel stand, neben Kameradrohne, Laptop
und dem Hörbuch „Magisterium“ auch: „dass die Pupertät bald
vorbeigeht“. Solch liebenswerte Selbsterkenntnis lässt die Eltern die
zähen Kämpfe um Fernseh- und Handyzeit, Klavierüben oder Zubettgehen
vergessen. Leander überlegt jetzt konkret, an seiner Schule einem
Debattierclub beizutreten. Tilman ermuntert ihn seit Jahren dazu. Vor
allem die scharfe Form der aktivierenden Kritik beherrscht Leander
perfekt. Ein Beispiel: Silka hat Leander gerade klargemacht, dass er
abends um neun nicht noch eine Runde League of Legends
am Computer spielen darf. Tilman sieht das genauso wie Silka, als
Leander auch ihn noch mal danach fragt. Daraufhin Leander: "Manchmal
habe ich den Eindruck, du lässt dich von einer Frau unterdrücken, weil
du nie eine andere Meinung hast als sie." Welcher Mann lässt das gern
auf sich sitzen?
Leander hört aber auch gern zu. Sein
Rat ist unter Altersgenossen, darunter auch Mädchen, geschätzt und er
will noch immer Psychologe werden (zu den Eltern: „Ich weiß schon
genau, wer meine ersten Patienten werden, wenn ich mal Psychologe
bin!!“). In
den Herbstmonaten versechsfachten sich die Handyrechnungen wegen
solcher Gespräche. Tilman organisierte einen Flatrate-Tarif.
Mit der
kirchlichen Jugend ist Leander viel unterwegs: Schon die
Konfirmandengruppe verreiste im Frühjahr gemeinsam, im August ging es
dann nach Schweden – diese Reisen sind ein willkommener Ausgleich zum
Alltag an der nicht immer einfachen Schule. Und Leander radelte mit
Tilman an drei Tagen 220 Kilometer bis zur Spreequelle. |
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Auch Schwester Tabea war schon in Schweden. Die 23-Jährige hat nunmehr ihr letztes volles Studienjahr hinter sich gebracht. 2017
steht an ihrer Potsdamer Fachhochschule neben praktischen Prüfungen
auch die Bachelorarbeit für „Musikpädagogik in sozialer Arbeit“ an –
Tabea trinkt neuerdings Kaffee. Leichter als die Theorie läuft der
praktische Teil des Studiums:singen, Saxophon spielen (wie hier bei einem Empfang für Udo Lindenberg), arrangieren und
komponieren. Zum Berliner Festival „Feté de la Musique“ oder am späten
Heiligabend in der Kirche war zu hören, was sie mit Freunden
musikalisch auf die Beine stellt. Wenn die WG-Wohnung in Berlin-Mitte
zu öde wird, schaut sie bei der Familie in Weißensee vorbei. Ihr Rat in
Erziehungsdingen ist dort durchaus geschätzt.
Ob sie bald musikpädagogische Sozialarbeiterin ist oder doch in der Filmproduktion landet – wir sind gespannt.
Oft
kommt es ja ganz anders, das gilt auch fürs Reisen. Im Reiseführer für
Jordanien hatten Silka und Tilman gelesen, dass vom Autofahren dort
strikt abgeraten wird, besonders in der Hauptstadt – zu gefährlich.
Also Bus und Taxi, statt eigenem Auto – Tilmans Internationaler
Führerschein blieb also in Berlin im Schreibtisch.
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Kaum 48 Stunden nach
Ankunft in Amman fuhren wir einen Mietwagen – ein junger
Deutsch-Jordanier hatte uns beim spontanen Teetrinken dazu überredet.
Das Fahrzeug erwies sich als Glücksfall, die Fortbewegung damit auch in
der rush hour als problemlos
Und
nachdem Berliner Nachbarn uns per Whatsapp ein Foto unseres
Führerscheins nachgeschickt hatten, hätten wir ihn sogar der Polizei
vorzeigen können. Doch warum? Sämtliche Kaffeeverkäufer, Tankwarte oder
Polizisten sprechen mit Deutschen zunächst nur über den FC Bayern
(„good.“), Arien Robben und Franck Ribéry („very good!“) und Adolf
Hitler („do you like...?). Hitler ist in Jordanien eine Frage des
Blickwinkels
Silka und Tilman verlebten in dem arabischen Land zwei Wochen voller Spontanität
(„wie zwei Studenten mit Rucksack“). Allein drei Tage durchstreiften
wir die Felsenstadt Petra, wir lagen pflichtgemäß im Toten Meer, wir
schnorchelten durch die Fischschwärme im Roten Meer – bei Aqaba, wo der
britische Militärstratege Lawrence von Arabien einst die Araber
siegreich gegen die Türken führte.
Mit den Beduinen nächtigten wir in der himmlischen Stille der Wüste,
wir prellten unsere Knochen an den Felswänden in den Stromschnellen des
Wadi Mujib. Viel über den Alltag in dem krisengeplagten Land (seit dem
Syrien-Krieg bleiben die Touristen aus, dafür kamen Hunderttausende
Flüchtlinge) haben wir gelernt durch Silkas ehemalige Patientin und deren Großfamilie
– sie hatten uns eingeladen. Oder durch Tilmans Besuch bei einer aus
Homs geflohenen Familie, die in unvorstellbar ärmlichen Verhältnissen
das Ende des Kriegs herbeisehnt.
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Angesichts
dessen schämen wir uns fast unserer Berliner Alltagssorgen. Zumindest
das Problem von Leanders Klassenfahrt nach London hat sich, wie oben
angedeutet, von selbst gelöst: Leanders Schulleiter entschied den Clash der Milieus zu unseren Gunsten: Statt London geht es jetzt nach Dresden.
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Da
regnet es zwar zuweilen auch, aber die Busfahrt ist zwölf Stunden
kürzer und die Aussichtsplattform der Frauenkirche überdacht.
Entscheidungshilfe leistete möglicherweise ein ZEIT-ONLINE-Artikel von
Tilman über den erwähnten Elternabend – streng anonymisiert ging es
darin um das Spannungsfeld zwischen selbstorganisiertem Gruppenerlebnis
und anstrengungslosem Fernreise-Wohlstand.Tilman muss sich für seine
Artikel (über Pegida oder die AfD) zuweilen als „Münchhausen der
Linksfaschisten“ und „Dummbatz des Monats“ beschimpfen lassen
(dokumentiert auf seiner Facebook-Seite). Wegen der Klassenfahrt blieb
bisher aber alles friedlich.
Mehr
Frieden – das ist es, was wir 2017 brauchen und uns wünschen.
Spätestens seit dem Anschlag in Berlins Mitte ist das nicht mehr nur so
dahergesagt. Lasst euch alle herzlich grüßen und danken für eure
Freundschaft, Begleitung, Ratschläge, gemeinsame Begegnungen beim
Cousin- und Cousinentreffen, in Berlin, in Zittau, Olbersdorf oder Wien
–
Herzliche
Grüße aus Berlin-Weißensee/Mitte
- Silka, Tilman, Tabea und Leander
>>>...das
war 2014 !
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